Heute wurde ich zu einer Familie gerufen, die einen Notfall hatte. Während ich einige Stunden mit ihrem vier Monate altem Sohn unterwegs war, passierte etwas wirklich Erstaunliches. Vielleicht ist “erstaunlich” nicht das richtige Wort. Es ist eher ein Platzhalter für etwas, für das ich noch nicht die richtigen Worte finde.
Ich lief mit dem Kinderwagen vor mir durch das Viertel. An einer Kirche blieb ich stehen und setzte mich in eine Bushaltestelle. Während ich das kleine süße schlafende Baby im Wagen hin und her schob, knallte etwas von außen gegen die Werbewand des kleinen Wartehäuschens. Um mich herum standen einige ältere Damen, die sich ebenso erschrocken hatten. Da kam auch schon ein kleiner afrikanischer Junge vorbei. Er setzte sich neben mich. Soweit alles normal – doch jetzt kommt der verrückte Teil:
Er saß neben mir auf der Bank und schlug mit der Hand immer wieder auf das Verdeck des Kinderwagens. Meine Gedanken galten zunächst dem schlafenden Baby. Ich konnte diese Handlung nicht einordnen. Doch als ich in das Gesicht des Jungen sah, war es schmerzerfüllt. Er sah mich mit großen Augen an, rieb sich den Kopf, und ich sah eine Platzwunde an seinem Arm. Da war klar: er war es, der gegen die Wand geknallt war.
Seine Mutter, die auch in das Häuschen gekommen war, hatte seinen kleinen Bruder an der Hand. Ich dachte, dass sie vielleicht nicht gesehen habe, was passiert war. Der Junge, der höchstens sechs war, rieb sich noch immer den Kopf und verwandte seine ganze Kraft darauf, nicht zu weinen. Immer wieder rieb er mit der einen Hand über die Augen, während die andere den Kopf hielt. Ich überlegte die Mutter auf ihn aufmerksam zu machen. Ich hätte ihr die Hand auf den Arm legen und mitfühlend sagen können, dass ihr Sohn sich verletzt hätte. Ob sie überhaupt deutsch sprach? Schnell überlegen was ich in Englisch sagen würde…
Da holte die Mutter aus, und spuckte auf den Boden. Bei dem Geräusch, das sie zuvor machte, zuckte der kleine Junge neben mir zusammen und sprang auf. Wenige Meter von uns entfernt blieb er stehen um zu sehen, wohin seine Mutter gespuckt hatte. Er war wie ein Hund, der jault sobald jemand die Hand hebt, weil er Angst hat geschlagen zu werden. Die Szene stach mir mitten ins Herz.
Er setzte sich wieder. Ich sah in den Kinderwagen. Das Baby schlief. Ich sah den Jungen an. Seine Mutter strich seinem Bruder über den Kopf, weil dieser kurz das Gleichgewicht verloren hatte und gegen die Rückwand des Glashauses gekippt war. Den älteren Sohn hingegen ignorierte sie weiter, sagte etwas in ihrer afrikanischen Sprache und schmuste weiter mit ihrem Jüngsten. Was bitte ging hier vor?!?!?! “Du hast dir ganz schön weh getan, oder?”, fragte ich den Jungen und hätte ihn am liebsten in den Arm genommen. Noch immer spannte er jeden Muskel im Gesicht an, um nicht zu weinen. Seine Mutter sah mich an und drehte dann ihren Kopf wieder weg. Wenn ich doch nur etwas hätte tun können. Der kleine Junge rutschte langsam immer näher an mich heran. Normalerweise hätte ich jetzt reagiert, doch ich wartete ab. Vorsichtig lehnte er seinen Kopf an meinen Arm und blieb so sitzen.
Etwas Besonderes geschah in diesem Moment. Dieser fremde Junge lehnte sich an, weil er Trost brauchte. Seine großen braunen Augen sahen mich an. Als der Bus kam, stieg die kleine Familie ein. Mein letzter Gedanke war, dass ich hätte mehr tun sollen.
Eine außergewöhnliche Szene, die schwer zu beschreiben ist. Wie viele Kinder erleben in Deutschland gerade Schmerzen? Sind traurig, einsam, allein gelassen oder verletzt und bräuchten dringend Hilfe, eine Schulter zum anlehnen oder eine schlichte Umarmung, die ihnen zeigt, dass sie geliebt sind – egal was andere Erwachsene ihnen sagen. Wir sollten aufmerksamer sein wenn wir durch die Straßen gehen. Denn es sind nicht nur die Kinder in anderen Ländern, die unsere Hilfe brauchen…